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Nov

Interview mit Wolfgang Gutberlet zur Leben-lieben-Tour

Interview mit Wolfgang Gutberlet

 

Joachim Galuska:  Mein heutiger Gesprächspartner ist Wolfgang Gutberlet, ehemaliger Gesellschafter und Vorstand der „tegut“- Lebensmittelgruppe. Wolfgang, wir kennen uns schon aus früheren Zeiten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass du immer lieber von Lebensmitteln als von Nahrungsmitteln gesprochen hast. Dieser Begriff „Leben“ passt auch sehr gut zu unserer „Leben lieben“-Tour. Was verstehst du unter Leben? Was bedeutet Leben für dich?

Wolfgang Gutberlet:  Dr. Hauschka hat dazu einmal gesagt: „Studieren Sie Rhythmus. Rhythmus trägt Leben.“ Leben ist nur in der Veränderung da. Sobald sich etwas nicht mehr verändert, ist auch kein Leben mehr da.

Joachim Galuska:  Das ist ja eigentlich auch etwas ganz Spirituelles. Im Christlichen heißt es: „Gott hauchte dem Ton seinen Atem ein und damit ist dann das Leben entstanden“. Das Leben wäre hier diese Verschmelzung von Spirituellem, Göttlichem und Materiellem.

Wolfgang Gutberlet:  Goethe sagte: „der Tod ist ein Trick der Natur, um möglichst viel Leben zu haben“. Dieser Tod ist ein Umstülpungsprozess, den wir auch in den Jahreszeiten sehen. Während Sommer und Winter in ihrer reinen Form todbringend sind, sind die Übergangszeiten Frühling und Herbst das wirklich Interessante.

Joachim Galuska:  Was passiert in diesen Zeiten für dich? Sowohl geistig, als auch seelisch?

Wolfgang Gutberlet:  Im Frühling gehen wir nach draußen, wie im Lied von Paul Gerhardt: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud In dieser lieben Sommerzeit.“ Im Herbst ist es genau umgekehrt: wir kehren langsam in uns zurück und verdichten das, was wir im Laufe des Sommers erlebt haben wieder ins Geistige.

Joachim Galuska:  Und in unserer Kultur? Was hältst du davon, wenn wir diesen Wechsel mehr ritualisieren würden?

Wolfgang Gutberlet:  Bei uns haben wir ja noch Reste von Sonnenwendfeiern. Das müsste man wieder mehr ins Auge fassen. Aber wir schaffen uns eine künstliche Welt. Wir verdrängen die Dunkelheit durch unser künstliches Licht, genauso wie die Kälte und die Hitze. Wir versuchen das, was uns lebendig macht, in eine gewisse Gleichmäßigkeit zu bringen und meinen, das wäre besser für uns. Schiller hat gesagt: „Und ob alles im ewigen Wechsel kreist, es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.“ Und das ist diese Spannung, dieser Wechsel. Er ist, wie Goethe sagt, eine Voraussetzung dafür, dass wir lebendig bleiben.

Joachim Galuska:  Ist beides lebendig? Sowohl die Veränderung, als auch die Stille? Ich habe mal eine Meditation kennengelernt, die sich Body-Flow nennt. Hierbei konnte ich sowohl diese Ruhe als auch diese Bewegung spüren. Und vielleicht können wir ja beides im Leben fühlen, nicht nur die Bewegung. Wie würdest du das sehen?

Wolfgang Gutberlet:  Wir sollen beides im Leben fühlen! Und wenn man geführt durch Kunst oder Musik, genau das, willentlich herbeiführen kann, dann ist man kräftig.

Joachim Galuska:  Wir verwenden das auch im Therapeutischen: TaKeTiNa ist eine Rhythmustherapie, bei der die Menschen erfahren, dass sie von einem Rhythmus getragen werden können.

Wolfgang Gutberlet:  Viele Menschen schaffen es nicht mehr selbst, sich in der Meditation auf die Stille einlassen. Daher helft ihr ihnen zum Beispiel durch solche Verfahren Stück für Stück sich vertrauensvoll darauf einzulassen.

Joachim Galuska:  Das Motto ist ja auch ihnen zu helfen, das Leben wieder lieben zu lernen oder vielleicht überhaupt lieben zu lernen. Du hast dich ja viel mit Resilienz beschäftigt. Resilienz kann man vielfach definieren als Krisenkompetenz oder Lebenskompetenz. Aber könnte man auch den Aspekt reinbringen, fähig zu sein, sein Leben zu balancieren?

Wolfgang Gutberlet:  Ich habe ein Buch über Resilienz mitgeschrieben, das heißt „Wachsen am Widerstand“. Und wenn ich sage „Wachsen am Widerstand“, dann bin ich immer in dieser Spannung, dass zwei Bewegungen da sind. Eine Bewegung und eine Gegenbewegung. Und genau diese beiden Bewegungen führen dazu, dass sich da etwas kräftigt und Leben entsteht.

Joachim Galuska:  Wir sind ja beide schon ein bisschen älter. Da fragt man sich öfter: Worum geht es überhaupt im Leben? Was wäre da deine Antwort, deine Erkenntnis?

Wolfgang Gutberlet:  Ich glaube wir dürfen nicht nur nachdenken, sondern müssen auch vordenken. Da wird mir natürlich immer klarer, dass mein Körper jetzt mit 78 nicht mehr mit meinen Gedanken mithält, aber, dass ich in den Gedanken durchaus weitergehen kann. Dennoch gehe ich auf diesen Punkt zu, an dem ich meinen Leib abgebe. Und da ist die Frage, was bleibt. Denn, wenn ich auf mich schaue, sage ich, ich bin noch lange nicht das, was ich mir vorstelle sein zu können. Da muss ich noch ein paar Leben leben, noch ein paar Runden gehen.

 Joachim Galuska:  Leben lieben kann ja auch heißen, die Fülle des Lebens zu lieben. Was würdest du sagen, bedeutet Leben lieben, wenn man die Fülle des Lebens liebt?

Wolfgang Gutberlet:  Ich würde gerne mit Morgenstern antworten:

Geschöpf nicht mehr, Gebieter der Gedanken,
des Willens Herr, nicht mehr in Willens Frone,
der flutenden Empfindung Maß und Meister,

zu tief, um an Verneinung zu erkranken,
zu frei, als daß Verstocktheit in ihm wohne:
So bindet sich ein Mensch ans Reich der Geister:
So findet er den Pfad zum Thron der Throne.

Das beschreibt wunderschön was menschliche Vollständigkeit ist.

Joachim Galuska:  Warum hast du dich in deinem Leben so viel mit Lebensmitteln beschäftigt? Gibt es da eine Verbindung zu dem, was wir gerade besprechen?

Wolfgang Gutberlet:  Ich habe das Unternehmen von meinem Vater übernommen und da habe ich mich gefragt: Was soll damit geschehen? Wie gehe ich mit Arbeit um? Daraufhin habe ich mich viel mit gruppendynamischen Fragen beschäftigt. Danach war die Frage: Was gebe ich den Menschen eigentlich zu essen? Was sind Lebensmittel überhaupt? Mir ist dann klargeworden, dass ein Lebensmittel kein Stoff ist. Denn komplett reine Stoffe sind für uns eigentlich immer schädlich.

Joachim Galuska:  Also sollen Lebensmittel lebendig sein?

Wolfgang Gutberlet:  Lebensmittel sind immer Vielstoff-Produkte. Wenn wir einen Apfel analysieren und dessen einzelne Bestandteile zu uns nehmen würden, hätten wir keinen Apfel gegessen. Die Natur speichert etwas von dessen Lebenserfahrung in ihm. Und wenn wir den Apfel essen, zerstören wir ihn bis in die kleinsten Teilchen und er wird ein Teil von uns. Das Lebensmittel gibt seine Eigenheit völlig auf. Wir nehmen diese Lebenserfahrung und machen daraus wieder das, was von uns kommt. Und deshalb sind Lebensmittel nur solche, die eine Lebenserfahrung hatten. Und im Grunde treiben wir, wenn wir essen, den Geist aus der Materie raus.

Joachim Galuska:  Aber, wenn ich in den Lebensmittelladen gehe, einen Apfel kaufe und den esse, dann denke ich doch nicht an die Dinge, die Du gerade erzählt hast. Fehlt uns diese Wertschätzung?

Wolfgang Gutberlet:  Ja, das wussten die Leute früher ganz deutlich. Wir nutzen tiefliegende Rituale, wie das Gebet vor dem Essen, nicht mehr. Diese Dankbarkeit ist ein ganz wichtiges Element.

Joachim Galuska:  Wir verbringen einen großen Teil unseres sozialen Lebens mit gemeinsamem Essen. Das beinhaltet viele Vorgänge. Vom Einkaufen, über das Kochen, Tisch decken und schließlich zusammensitzen und essen. Ist gemeinsames Essen dann auch so etwas wie eine Feier des Lebens?

Wolfgang Gutberlet:  Ja, wenn ich es in der richtigen Weise tue. Denn die Erfüllung beim Essen spüren wir in dem Augenblick, in dem es vom einen in den anderen Zustand übergeht. Wenn ich etwas runterschlinge, dann erlebe ich das nicht und es bekommt mir auch nicht so gut. Das wissen wir eigentlich. Wir denken aber nicht daran.

Joachim Galuska:  Ich habe das Gefühl, wenn ich dieses Wort „Leben“, mal als eine Metapher sehe und nicht als etwas Fixes, dass dann etwas in mir geschieht. Etwas verändert sich in mir und ich spüre Lebendigkeit.

Wolfgang Gutberlet:  Wir haben noch das zweite Wort „lieben“ dabei. Da ist die Frage, was heißt es, das Leben zu lieben? Es heißt ja auch, die Schönheit zu erfassen. Diese kann ich aber nur im Werdenden, nicht im Gewordenen erfassen. Ich kann die Schönheit nur in der Spannung erleben.

Joachim Galuska:  Wir haben jetzt über Leben lieben, über Schönheit, aber auch über Dankbarkeit gesprochen. Zum Schluss: liebst du das Leben, Wolfgang? Erfüllt es dich? Hast du das Gefühl, dass das Leben dich auch liebt?

Wolfgang Gutberlet:  Ja, ich liebe das Leben und ich liebe es, noch tätig zu sein und in dieser Welt mitzuwirken. Spannend ist das Ganze nur, wenn ich beide Seiten mitkriege. Es ist nicht spannend, wenn ich in irgendeinem Begriff der Liebe versinke. Sondern es ist immer Bewegung, immer die Auseinandersetzung zwischen dem einen und dem anderen.

Joachim Galuska:  Brauchen wir das auch, dass wir uns vom Leben lieben lassen?

Wolfgang Gutberlet:  Ich glaube, wenn wir das Leben lieben, dann haben wir auch das Gespür, dass das Leben uns liebt. Als Beispiel: Ich habe mich mal mit der Frage beschäftigt, wie Geschmack entsteht, bzw. warum etwas reizvoll ist, wenn man es isst. Die interessanten Punkte, an denen der Mensch Genuss erlebt, sind die, wenn es vom Flüssigen ins Feste, oder vom Fettigen ins Trockene geht. Nicht, wenn er nur etwas Trockenes oder nur etwas Fettiges isst, sondern es ist genau der Punkt, wo das eine ins andere übergeht.

Joachim Galuska:  Du hast in dem Gespräch ganz oft diese Übergänge beschrieben, in denen das Leben in seiner Lebendigkeit fühlbar wird. Sollten wir es dann auch mehr vergegenwärtigen?

Wolfgang Gutberlet:  Ja, und wir lieben es, die Wirksamkeit zu sehen. Wenn wir nicht zu sehr auf das Fertige schauen, sondern auf das Werden, dann sind wir schon beim Leben. Und solange etwas wird, ist es lebendig.

Joachim Galuska:  Das war ja ein wundervoller Satz zum Schluss. Dankeschön für dieses wunderschöne Gespräch.