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Schaffer Ulrich – „Unsere endlose Entfaltung“

Auf ihrer Internetseite haben Sie gerade ein Selbstinterview mit zwanzig Fragen zu ihrer Person veröffentlicht. Eine Frage mag ich aufgreifen. Worüber schreiben Sie und wen möchten Sie erreichen?

Ich schreibe über das, was mein Leben angeht, über das, was mich beschäftigt, das, was mich umtreibt. Ich versuche, mich durch mein Schreiben in der Welt zu orientieren – in meiner persönlichen Welt, aber auch in der Welt um mich. Mein Schreiben ist eine Stellungnahme.

Ich schreibe nicht in erster Linie um jemanden zu erreichen, sondern glaube, wenn ich mich ernsthaft und tief gehend mit etwas beschäftige, dann wird es auch andere Menschen angehen. Mein Leben und das Leben meiner potentiellen Leser ist nicht so verschieden.

 

Sie sind sowohl Fotograf als auch Schriftsteller. Schöpferische Kraft und Ausdruck ist ein Teil von Ihnen. Was bedeutet für Sie schreiben und fotografieren und welche Bedeutung hat Offenheit dabei?

Ich glaube allgemein, dass wenn wir etwas gestalten, wenn wir uns “ausdrücken”, wir uns selbst am nächsten sind. Beim Gestalten nehmen wir uns selbst wahr. Wir begegnen unseren Wünschen und Hoffnungen, unseren Ängsten und Nöten. Es ist oft mit einer höheren Bewusstwerdung verbunden. Offenheit ist dabei ganz wichtig, weil wir uns dadurch auch neuen Gedanken und neuen Erlebnissen aussetzen. Wir drehen uns nicht nur im Kreis, sondern denken Neues. Offenheit heißt, potentielle Welten anzuzapfen.

 

Ihre Bücher zeigen eine Schönheit und ein tiefes Verständnis des Menschseins. Sie haben einen Erfahrungsschatz eines Lebens und sind nun 80 Jahre alt. Was hat das Alter der Jugend voraus und wie können wir zur Offenheit zwischen Menschen beitragen?

Das Alter hat der Jugend zunächst nichts voraus. Ich glaube nicht, dass wir sozusagen automatisch mit dem Alter reifen und wachsen. Wenn wir allerdings im Laufe des Lebens die Bewusstwerdung als hohen Wert geschätzt haben, dann ist das Alter eine Art Krönung des Lebens. Dann nehmen wir die Welt umfassender mit unserem Herzen wahr. Dann verstehen wir etwas mehr von der Welt – nicht im intellektuellen Sinne, wohl aber in ihrer spirituellen Bedeutung.

Wir können zur Offenheit zwischen Menschen beitragen indem wir uns selbst treu sind und nicht tun was “man” von uns verlangt. Viele der persönlichen wie auch der öffentlichen Katastrophen werden durch fehlende Selbsterkenntnis ausgelöst. In dem Maße wie wir uns selbst kennen und diese Erkenntnis in unsere zwischenmenschlichen Beziehungen einbringen, werden wir offener miteinander leben. In einer verwöhnten Welt ist es wichtig, dass wir einander herausfordern, offener und ehrlicher zu leben.

 

In dem Selbstinterview konnte ich lesen, dass Sie über die Schönheit der menschlichen Seele nachgedacht haben. Möchten Sie mit uns ihre Gedanken teilen?

Ich glaube, wir sind sehr komplexe Wesen. Wenn wir auf “Unendliches” bezogen sind – C.G. Jung gebraucht den Begriff – entfalten wir unsere Schönheit, die uns in einem oberflächlichen, vordergründigen Leben verlorengeht. Durch unsere ständige Sehnsucht nach einem tieferen Verständnis des Lebens, nach einer größeren Fähigkeit in Liebe zu leben, nach einem umfassenderen Verständnis der Nöte der Mitmenschen können wir über uns selbst hinauswachsen. Wir sind schön in unserem Ausstrecken.

Wir sind schön, wenn mir aus unserem Herzen leben, nicht aus unseren Gefühlen oder aus unserem Intellekt. Unsere Schönheit ist die des Herzens. Da leben wir in Demut, in Liebe, in verletzbarer Hinwendung zum Mitmenschen.

 

Am Samstagnachmittag des Kongresses geben Sie den Workshop „Die Stimme der Vorsicht entlarven“ und schreiben „Oft lassen wir uns leben!“ Wie können Menschen ihre Sehnsucht nach größerer Offenheit entdecken und diese dann leben? Welche Chancen sehen Sie gerade jetzt darin, die Vorsicht abzulegen und die Offenheit zu leben?

Die Vorsicht kann ein großes Hindernis sein, offen und zugewandt zu leben. Wir gebrauchen sie manchmal als Ausflucht, um nicht wirklich engagiert zu sein. Wir sagen uns: Wir könnten ja jemanden verletzen oder unangenehm auffallen. Vorsicht ist darum geboten. Aber genau dadurch verletzen wir uns selbst und einander mehr als durch Offenheit und Direktheit. Wir schützen uns selbst und einander vor der Herausforderung, die für jedes Wachstum nötig ist. Es ist wichtig diese falsche “Vorsicht” zu entlarven. Sie ist oft nur ein Ausdruck unserer Angst. Mir scheint es, dass wir uns oft für Entwicklung und Offenheit entscheiden, aber nicht bereit sind, den Preis, den so eine Entscheidung mit sich bringt, zu zahlen. Wir wollen das Resultat, sind aber nicht bereit, den Weg zu gehen, der nötig ist. Diesen Widerspruch gilt es zu entlarven.

Offen und direkt zu leben ist eine Entscheidung. Es fällt uns nicht leicht, weil unsere Gesellschaft generell diese Offenheit und Direktheit nicht begünstigt. Es wird allgemein von uns erwartet, dass wir uns einpassen und ein Rädchen in der Maschinerie werden.

 

Kommen wir einmal zu ihrem Abschlussvortrag, der unter dem Titel steht „Unsere endlose Entfaltung“. Sie schreiben: Leben will sich immer weiter entfalten, will wachsen und blühen. Haben Sie schon heute einen Rat für uns, wie wir auf die Entdeckungsreise zu der Person gehen können, die wir sein könnten?

Diese endlose Entfaltung geschieht bei Menschen, die sich dafür interessieren und einsetzen. Sie geschieht nicht von selbst. Auch wenn unser Organismus auf Entfaltung angelegt ist, wie alles Lebendige, sind wir Wesen, die sich gegen diese Entfaltung entscheiden können. Wir können uns verschließen. Es scheint fast zum Alter dazuzugehören, dass alte Menschen sich nicht  mehr oder nur geringfügig entfalten. Sie scheinen oft ihre Entwicklung abgeschlossen zu haben. Die Entfaltung im Alter ist eine andere als die der Jugend. In der Jugend geht es um Expansion, um Ausbreitung, um Stärke, um Eroberung des Lebens. Im Alter geht es um Vertiefung, um Konzentration, um Verletzbarkeit, um Entdeckung der Geistigkeit der Welt. Diese Art der Entfaltung ist uns weniger geläufig. Die Entfaltung der Jugend ist uns bekannter und darum versuchen viele Menschen sie auch noch im Alter zu leben, aber das ist nicht, was das Alter braucht oder was ihm angemessen ist.

Die Entdeckungsreise zu sich selbst ist eine spannende, auch im Alter – besonders im Alter, weil wir uns nicht mehr so stark profilieren und beweisen müssen. Wir können uns auf die Feinheiten konzentrieren, auf die Subtilität unserer Persönlichkeit. Ich habe immer gefunden, dass der Umgang mit anderen Menschen uns stark hilft, uns selbst näher zu kommen. Fast jeder Mensch wird im Lauf der Zeit zu einer Herausforderung für uns, allein durch seine Andersartigkeit – und genau da entdecken wir uns. Wir werden in Frage gestellt – wenn wir das bejahen, entdecken wir uns, vielleicht nicht immer nur positiv – aber genau da geschieht Entwicklung, da kommen wir uns selbst näher.

Für mich sind Stille und auch Alleinsein auch wichtig für diese Entwicklung. Aber am meisten gelingt uns diese Entwicklung durch unsere Sehnsucht nach Entwicklung. Wenn wir “beseelt” oder “begeistet” sind von dieser Entwicklung, geschieht sie.