Interview: Vom Tabu zur Transparenz – Seelische Gesundheit im Wandel der Generationen
Ein Gespräch mit Sven Steffes-Holländer über Generationen, Gefühle und unsere gesellschaftliche Entwicklung.
Frage:
Wenn wir die seelische Gesundheit als ein generationsübergreifendes Familiensystem betrachten – wer ist das „schweigende Kind“, wer der „rebellische Teenager“ und wer vielleicht die „therapieaffine Mittzwanzigerin“?
Antwort:
Das Bild des Familiensystems ist wirklich treffend – denn wie in einer Familie ist auch unsere kollektive Haltung zur psychischen Gesundheit von unbewussten Loyalitäten, tradierten Mustern und individuellen Ausbrüchen geprägt.
Die Stille Generation – also die zwischen 1928 und 1945 Geborenen – ist das „schweigende Kind“ im System. Geprägt von Krieg, Verlust, Flucht und Zerstörung, musste diese Generation Überleben sichern, nicht Emotionen verarbeiten. Die Botschaft lautete: „Sprich nicht. Fühle nicht. Funktioniere.“ Seelische Verletzlichkeit war gefährlich – man konnte es sich schlicht nicht leisten.
Die Babyboomer treten dann wie ein „rebellischer Teenager“ auf: Sie wollen raus aus der Enge, aufbegehren, über Politik und Freiheit sprechen – aber nicht unbedingt über Angst oder Trauma. Sie versuchen sich zu emanzipieren, aber die emotionale Tiefe bleibt häufig unausgesprochen.
Generation X ist ein Kind des Übergangs. Sie beobachtet viel, zweifelt, wird ironisch oder zynisch – in gewisser Weise ist sie der stille Zuschauer, der alles sieht, aber sich emotional oft zurückzieht.
Und dann kommt die Mittzwanzigerin, die Millennials – die erste Generation, die sich ganz selbstverständlich in Therapie begibt, die Gefühle offenlegt, über innere Prozesse spricht und Podcasts über Angststörungen hört, ohne sich zu schämen.
Die nachfolgenden Gen Z und Alpha wiederum sagen: „Wir wollen uns nicht länger in Systeme zwängen, die uns krank machen.“ Sie sind emotional intelligent, aber auch mit dem Druck der Sichtbarkeit konfrontiert. Jeder postet, wie es ihm geht – aber wer hört wirklich zu?
Frage:
Wenn jede Generation eine psychisches Thema hat – welche sind das jeweils?
Antwort:
Die Stille Generation trägt das tiefe Trauma der Entmenschlichung – Krieg, Verfolgung, Hunger. Ihr Thema ist das „emotionale Verstummen“: ein tiefes inneres Erleben, das keine Sprache finden durfte. Die Babyboomer haben die kollektive Erfahrung von Aufbau, Wohlstand und sozialem Aufstieg – aber auch eine enorme Leistungsorientierung verinnerlicht. Ihre Thema ist das „Müssen“: funktionieren, leisten, sich beweisen. Generation X hat vielfach emotionale Distanz und Unsicherheit erlebt – etwa durch hohe Scheidungsraten und gesellschaftliche Umbrüche. Ihre psychische Thema ist die „Beziehungsmüdigkeit“, ein tiefes Misstrauen gegenüber Nähe und Bindung. Die Millennials hingegen erben die Unsicherheit eines flexiblen Kapitalismus: ständige Selbstoptimierung, Projektarbeit, soziale Vergleichbarkeit. Ihre Thema ist die „Selbstwert-Instabilität“ – das Gefühl, nie genug zu sein, weil es keinen stabilen Maßstab mehr gibt. Und bei Gen Z? Sie hat als Thema am ehesten den „digitalen Burnout“: permanente Erreichbarkeit, Dauervergleiche, eine Flut von Informationen und Erwartungen – ohne ausreichende Möglichkeiten zur Erdung. Es sind keine Diagnosen – sondern psychokulturelle Muster, die man erkennen kann, um sie bewusst zu durchbrechen.
Frage:
Sie sprechen über die zunehmende Sichtbarkeit von psychischer Gesundheit. Ist das ein Fortschritt – oder leben wir in einer Ära der „Psychologisierung des Alltags“?
Antwort:
Das ist eine zentrale Frage. Auf der einen Seite erleben wir einen historischen Fortschritt: Nie zuvor war es so akzeptiert, über Depressionen, Angst, Trauma oder Burnout zu sprechen. Der Gang zur Therapie ist enttabuisiert. Unternehmen sprechen über Mental Health, Schulen führen Präventionsprogramme ein. Das ist ein echter gesellschaftlicher Gewinn.
Aber gleichzeitig besteht die Gefahr einer inflationären Psychologisierung. Wenn jedes schlechte Gefühl gleich ein pathologischer Zustand ist, verlieren wir das Gefühl für Normalität. Wenn wir alles psychologisch deuten, übersehen wir gesellschaftliche, politische, soziale Zusammenhänge. Noch zugespitzter: In sozialen Medien wird psychisches Leid manchmal zu einer Identitätsmarke – das kann entlastend sein, birgt aber auch die Gefahr einer Überidentifikation. Wir brauchen also beides: Offenheit und Differenzierung. Psychische Gesundheit darf kein Lifestyle-Gadget sein – sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, das eine tiefgreifende Auseinandersetzung verlangt.
Frage:
Was würde passieren, wenn die Stille Generation heute auf TikTok über ihre Kriegstraumata spräche?
Antwort:
Ich glaube, viele von ihnen würden schlicht sagen: „Warum sollte ich das tun?“ Das ist kein Desinteresse – sondern eine andere Haltung zu Öffentlichkeit, Trauma und Intimität. Ihre Biografie lehrte sie: „Schweigen schützt.“
Aber wenn sie es doch täten – wenn sie wirklich über ihre Erfahrungen sprächen, über das Gefühl der Heimatlosigkeit, über den Verlust von Geschwistern, über Hunger, über Angst – dann würde das viele jüngere Menschen tief berühren. Es gäbe eine neue Verbindungslinie zwischen Generationen. Was fehlt, ist nicht nur das Erzählen – sondern das Zuhören. Wir sprechen heute viel über Traumata, aber oft wenig mit denjenigen, die sie tragen. TikTok wäre zu schnell für diese Geschichten – aber vielleicht bräuchten wir eine neue Langsamkeit der Aufmerksamkeit.
Frage:
Gibt es seelische Moden – also Diagnosen oder Begriffe, die je nach Generation besonders populär sind?
Antwort:
Ja, absolut. Diagnosen sind nicht nur medizinische Kategorien – sie spiegeln auch gesellschaftliche Diskurse wider. In den 1950ern war es der „Nervenzusammenbruch“. In den 1980ern sprach man von „Midlife Crisis“. Die 2000er waren das Jahrzehnt des „Burnouts“. Heute dominieren Begriffe wie „toxisch“, „Trauma“, „ADHS“, „Neurodivergenz“, „soziale Angst“. Das ist primär Ausdruck von von gesellschaftlicher Wahrnehmung. Manche Begriffe helfen, Erfahrungen zu benennen, andere drohen, zu Etiketten zu werden. Entscheidend ist, ob ein Begriff Dialog ermöglicht oder Identität festschreibt.
Frage:
Was wäre Ihre Wunsch-Schlagzeile für eine Zeitung im Jahr 2050 zum Thema psychische Gesundheit?
Antwort:
„Psychische Gesundheit ist keine Ausnahme mehr – sondern ein Menschenrecht.“
Oder: „Wir haben gelernt, dass emotionale Kompetenz wichtiger ist als künstliche Intelligenz.“ Mein Wunsch wäre, dass wir 2050 nicht mehr über Tabus sprechen müssen – sondern über echte Strukturen der Fürsorge. Über Schulen, in denen Gefühle gelehrt werden. Arbeitswelten, die psychische Stabilität fördern. Und eine Gesellschaft, in der es keine Frage des Mutes mehr ist, sich Hilfe zu holen – sondern Ausdruck von Selbstachtung.